„Alles hatte so perfekt begonnen“, erzählt mir Annika* unter Tränen. „Jonas* und ich haben uns über Tinder kennengelernt und gleich beim ersten Date war alles klar. Neun Wochen lang waren wir unzertrennlich, schmiedeten sogar Urlaubspläne. Ich war so verliebt und glücklich.“ Annika ist Anfang 30 und dachte, dass sie nach der Trennung von Ihrem langjährigen Freund vor einem Jahr nun endlich die große Liebe gefunden hätte. Jonas ist witzig, aufmerksam und liebevoll, beide lieben Mountainbikefahren und Sport. „Ich konnte mir alles mit ihm vorstellen, sogar Familie und Kinder“. Aber plötzlich, aus heiterem Himmel, bricht Annikas Welt zusammen: Als sie ihn zu einer Biketour abholen will, ist er nicht zu Hause. Ihre verzweifelten Anrufe und Textnachrichten bleiben unbeantwortet. Zunächst ist sie in großer Sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Doch nach ein paar Tagen folgt die Gewissheit: Jonas postet quicklebendig Fotos mit Freunden auf Instagram und hat Annika auf allen Kanälen blockiert. Sie kann ihn nirgendwo mehr erreichen – Jonas hat den Kontakt abgebrochen, plötzlich und unerwartet, scheinbar ohne Grund und ohne Erklärung.
„Ghosting“ nennt man das Phänomen, abgeleitet vom englischen Wort „Ghost“ (Geist, Gespenst). Denn genau so fühlt sich diese immer häufiger auftretende Form des Schlussmachens für die Betroffenen an: Die geliebte Person verschwindet wie von Geisterhand im Nirgendwo. Als hätte es eine Begegnung oder Beziehung nie gegeben. Die „Ge-ghosteten“ bleiben oft seelisch tief verletzt zurück. „Eine Trennung ist schon schwer genug zu verkraften, aber jemandem nicht mal ein Wort des Abschieds oder eine Erklärung Wert zu sein, das tut doppelt weh“, erklärt mir Annika Ihre derzeitigen Gefühle. Sie zeigt mir am Handy den Chatverlauf der letzten Tage mit Jonas: Es wimmelt von roten Herzen und Kuss-Smileys, auch in seinen Nachrichten. „Habe ich mir etwas vorgemacht? Was habe ich denn übersehen? Hat er mir alles nur vorgespielt?“. Diese Fragen quälen sie täglich, mittlerweile schon seit Wochen. Ihr Selbstwert ist erschüttert. Auf Dates hat sie keine Lust mehr, zu groß ist die Angst, wieder so massiv enttäuscht und verletzt zu werden. Sie hat das Vertrauen verloren, vor allem in ihre eigene Urteilsfähigkeit und ihr Bauchgefühl.
Annikas Geschichte ist leider in meiner Praxis kein Einzelfall. Immer öfter begegne ich ähnlichen Geschichten. Es passiert Frauen ebenso wie Männern, es tritt nach ersten Dates, aber auch, wie im Fall von Annika und Jonas, während der Anfangsphase einer beginnenden Beziehung auf. Eines fällt jedoch auf: Die Betroffenen haben die „Ghoster“ meistens über Dating-Apps oder Dating-Plattformen kennen gelernt. Prägt diese virtuelle Art und Weise des Sich-Kennenlernens auch die Art, wie man wieder auseinandergeht?
Die Autorin Tina Soliman beschreibt in Ihrem Buch „Ghosting – Vom spurlosen Verschwinden des Menschen im digitalen Zeitalter“ einen möglichen Zusammenhang wie folgt: „Die Dating-Plattformen, (…), erleichtern gleichzeitig einen unverbindlichen und auch verantwortungslosen Umgang miteinander. Wir lassen einen Laufsteg der Möglichkeiten an uns vorbeiziehen. Gefällt eine nicht, wird weiter geklickt. So endet mit einem »Weg«, was mit einem »Wisch« begonnen hat.“
Der nicht endende Zustrom von Menschen und Möglichkeiten in den Dating-Apps erzeugt bei vielen eine Unsicherheit, sich auf eine Person festlegen zu wollen. Denn was ist, wenn die perfekte Partnerin oder der perfekte Partner noch in meiner Tinder-App wartet? Was, wenn es noch jemanden da draußen gibt, der noch besser zu mir passt?
Die Verlockung ist groß, sich so erst gar nicht auf einen Menschen einzulassen, über den anfänglichen Hormon- und Dopaminrausch hinaus jemanden wirklich kennen zu lernen.
Doch was steckt dahinter, wenn Menschen einfach sang- und klanglos verschwinden? „Ich bin halt konfliktscheu“ oder „Ich wollte mein Gegenüber nicht verletzen“ hört man als Erklärungen von Menschen, die schon mal jemanden „ge-ghosted“ haben. Die meisten bekunden auf Nachfragen ein schlechtes Gewissen, verdrängen aber den Gedanken an die verletzten Gefühle des anderen schnell nach dem Motto „aus den Augen, aus dem Sinn“.
Es steckt oft jedoch mehr dahinter als nur Feigheit und eine Unlust auf die unangenehme Konfrontation. Plötzlicher Liebesverlust und Flucht vor Nähe ist ein bindungsängstliches Muster. Menschen mit Bindungsangst sind oft zu Beginn einer Beziehung extrem verliebt und euphorisch, entwickeln aber dann ein zunehmendes Gefühl von Beklemmung, wenn die Beziehung enger, näher und verbindlicher wird. Bindungssängstliche fürchten, von jemand anderem zu sehr eingenommen oder verletzt zu werden. Um sich zu schützen verlassen sie dann lieber die Beziehung, bevor sie selbst verlassen und verletzt werden.
Das zu verstehen mindert zwar nicht den Schmerz, kann aber helfen, das Ghosting nicht zu sehr auf sich zu beziehen. Denn das ist der größte Schaden, den Ghoster in der Seele der Verlassenen anrichten: Die quälende Frage, was mit mir nicht stimmt. Dass ich noch nicht mal eine Verabschiedung oder Erklärung wert zu sein scheine. Dass ich austauschbar bin, die gemeinsame Zeit und die Begegnung bedeutungslos und meine Gefühle unwichtig sind.
Was kannst Du tun, wenn du „Ge-ghosted“ wurdest?
- Akzeptiere, dass der andere keinen Kontakt mehr mit dir haben möchte, so weh es auch tun mag
- Schreibe einen Brief an diese Person in dem du allen Frust, Wut und alle offenen Fragen zu Papier bringst. Wenn es sich gut anfühlt, verbrenne oder zerreiße ihn anschließend.
- Schreibe einen mitfühlenden Brief an dich selber. Erkläre dir in diesem Brief, warum du ein Ghosting nicht verdient hast.
- Halte Dir immer wieder vor Augen, wie viele Menschen dich lieben und wertschätzen
- Wenn bereits etwas Zeit vergangen ist schau mit etwas Abstand auf dieses Erlebnis: Was kann ich daraus lernen? Wo hat mich diese Krise vielleicht sogar stärker gemacht?
- Lass dich nicht verunsichern. Gehe weiter auf Dates aber lass dir auf jeden Fall genug Zeit, den anderen wirklich kennen zu lernen.
- Wenn Du allein nicht weiterkommst, suche dir Hilfe (z.B. bei einem Therapeuten oder Coach)
Denke immer daran: Du bist ein Geschenk für andere. Dein Geschenk ist immer wertvoll. Wenn es jemand nicht annehmen will, ist er dein Geschenk nicht wert – nicht umgekehrt.
*Name und Eckdaten geändert
Photo by Daniel Giannone on Unsplash
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